Marienverehrung im Alltag

Das Leben schenken


Die Geschichte der Religionen kennt viele weibliche Gottheiten, die als Lebensspenderinnen verehrt wurden oder weiterhin verehrt werden. Die christliche Religion dagegen verzichtet auf weibliche Gottheiten und wendet sich einem väterlichen Gott zu. Jedoch, die Christenheit sehnt sich trotzdem nach einer weiblichen Präsenz, die sie als Mutter und Lebensspenderin sowohl im physischen als auch im geistlichen Sinne betrachten kann und sie konzentriert sich dabei auf Maria, die Mutter Jesu. Weil Maria Jesus, dem Sohn Gottes, das irdische Leben geschenkt hat, wird sie in der christlichen Welt verehrt. Ihre Verehrung unter dem Aspekt der physischen Mutterschaft fällt den christlich Gläubigen am leichtesten - wenn man die Jungfräulichkeitsproblematik ausklammert -, denn die Bedeutung einer Mutter-Kind-Beziehung ist jedem Menschen auf natürliche Weise bekannt. Wir erinnern uns an die Worte des Engels, die er zu Maria gesprochen hat: "Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst du gebären" (Lk 1,31). Die Botschaft ist zwar klar, aber sie wird nur dann eine Wirklichkeit, wenn Maria dieser Botschaft zustimmt. Damit sie aber ihre Zustimmung geben kann, muss sie an die Botschaft glauben und somit an das Leben, das sich in dieser Botschaft als Verheißung verbirgt. Daher hebt das Evangelium den Glauben Mariens hervor, indem es Elisabeth folgende Worte in den Mund legt: "Selig ist die, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ" (Lk 1,45). Dieser kurze Satz besagt, dass Maria an das Leben glaubt, das Gott durch sie dieser Welt schenken will. In diesem Sinne dient Maria nicht ausschließlich den christlich gläubigen Menschen als Quell der Inspiration und der Nachahmung, wenn es darum geht Leben zu schenken, neues Leben aufzunehmen.

Frauen und Männer, die sich in unserer Zeit damit beschäftigen eine Familie zu gründen und ein oder mehrere Kinder zu bekommen, wissen, welche existenziellen Herausforderungen damit verbunden sind. Sie planen, arbeiten, rechnen, sparen, verzichten auf ihre eigene Bequemlichkeit, nur damit sie ihren Kindern ein sicheres Heute und eine tragbare Zukunft vorbereiten können. Jedoch die harte Lebenserfahrung zeigt, dass trotz dieser sorgfältigen Planung etwas - wenn nicht vieles - aus dem Ruder läuft. Wenn wir die Mutterschaft Mariens betrachten, dann stellen wir fest, dass sie mit ihrem Kind ebenso vielen schweren Lebensschicksalen begegnen musste. Doch sie hörte nicht auf an das Leben zu glauben, das sich in Jesus entfaltete. Und oft ist es gerade dieser Glaube an das Leben im eigenen Kind, der den Eltern die Kraft gibt selbst in den ausweglosen Situationen nicht aufzuhören und ihr Kind hingabevoll zu dessen selbständigem Leben zu begleiten.

Die Verehrung der Gottesmutter als Lebensspenderin kennt aber auch eine weitere Dimension, die in ihrer geistlichen Mutterschaft zum Ausdruck kommt. Obwohl wir alle, die wir Maria verehren, eine leibliche Mutter haben, nähern wir uns Maria im Vertrauen und erzählen ihr all das, was wir uns in bestimmten Situationen - zumindest vorläufig - keinem anderen Menschen zu sagen trauen. Wir sehen in ihr eine Art geistliche Mutter. Und mit Recht. Insofern uns Jesus zu seinen Schwestern und Brüdern zählt (vgl. Mt 12,50) ist Maria auch unsere geistliche Mutter. Maria nimmt die Worte über die Familie Jesu ernst und steht zu seinen Brüdern und Schwestern auch dann, wenn Jesus nicht mehr physisch bei ihnen ist (Apg 1,14). Sie bildet zusammen mit den Nachfolgern Jesu die urchristliche Gemeinde und durch ihre Präsenz ermutigt diese zum Leben. Und das ist eine andere Form, wie man Leben schenken kann oder wie man zum Leben ermutigt; eine Form, die jeder Mensch, auch der kinderlose, anwenden kann, indem er durch seine positive Einstellung zum Leben und zu den Menschen mit Wort und Tat zum Wohl und zur Entfaltung des anderen beiträgt. Unsere Welt bietet unzählige Tätigkeitsbereiche, in denen verschiedenste lebensspendende Initiativen angewendet werden können: Menschenrechte, Ausbildung, Pflege, Kultur, Evangelisierung, Umweltschutz. In diesem Sinne sind unzählige engagierte Menschen zu Lebensspendern und -spenderinnen geworden; viele im Licht der öffentlichen Anerkennung, andere - die weit größere Gruppe - in unauffälliger Verborgenheit des Alltags... Und bezüglich der geistlichen Mutterschaft Mariens: Es sind fast 2000 Jahre vergangen, bis ein Papst, Paul VI., am 21. November 1964 die Mutter Jesu mit dem Titel "Mutter der Kirche" würdigte.

fr. Fero M. Bachorík OSM